1906 bis 1930
Neun junge Schleuderballspieler gründen mit dem SC Borussia den ersten Rüsselsheimer Fußballclub (aus dem Rüsselsheimer Echo vom 12.8.2006)
Neun junge Rüsselsheimer suchten vor exakt hundert Jahren eine neue sportliche Herausforderung. Bis dahin spielten sie im Vergnügungsverein ?Fidelio? vornehmlich Schleuderball, doch immer mehr wuchs ihre Begeisterung für den von England aus auch das europäische Festland erobernden Fußball. Also trafen sich die Neun, namentlich Heinrich Knopp, Georg Kyritz, Karl Schäfer, Heinrich Wolf, Fritz Diehl, Franz Loos, Heinrich Hummel, Leonhard Weitzel und Wilhelm Nold, um mit dem Sport Club Borussia 06 den ersten Fußballverein in Rüsselsheim zu gründen. Am 12. August 1906, einem Sonntag, wurde der Verein in der Gaststätte ?Hänschens Peter?, die später ?Zur Linde? hieß, Im Großen Ramsee 38 an der jetzigen Gustav-Heinemann-Schule aus der Taufe gehoben.Rasch gesellten sich neue Mitglieder hinzu, doch trotz der Zuwachsraten sollte es noch einige Zeit dauern, ehe für die lokalen Pioniere an einen regelmäßigen Spielbetrieb zu denken war. 1906, als sich der VfB Leipzig bereits um zweiten Mal nach seinem Erfolg im Premierenjahr 2003 die deutsche Meisterschaft holte, hatte die Borussia noch weniger mit den Gegnern als vielmehr einem geeigneten Sportgelände zu kämpfen. Die Gründerjahre waren auch eine stete Suche nach einem brauchbaren Spielfeld ? und an das aktuelle SCO-Domizil in der Georg-Jung-Straße, das 1962 fertiggestellt werden sollte, war ohnehin noch nicht zu denken
Zunächst übten die Mitglieder auf dem Sandplatz ?Lache?, der sich wohl zwischen heutiger Haßlocher Straße und Hallenbad in Höhe der KFZ-Zulassungsstelle befand. Schon bald folgte ein Umzug auf einen Kleeacker, der zwischen Alter Kirchstraße und Frankfurter Straße recht zentral lag, aber zu teuer war, ehe die Borussen 1912 von der Gemeinde Rüsselsheim ein brachliegendes Gelände am Waldrand Richtung Bauschheim günstig erwarben.
Auch andere Vereine konnten in dieser Zeit von einem gepflegten englischen Rasen nur träumen, das Terrain der Borussen war bei der Konkurrenz aber wegen seiner Unebenheiten besonders gefürchtet. In dieser Zeit war es selbstverständlich, neben der, verglichen mit heute, sehr teuren Fußballausrüstung auch mal einen Spaten oder eine Harke zwecks Ausbesserungsarbeiten mit ins Training zu nehmen.
Immerhin erfüllte der Platz des SC die Anforderungen der so genannten ?Jenaer Regeln? aus dem Jahre 1896, nach denen ein Spielfeld frei von Bäumen und Sträucher sein müsse. Im gleichen Jahr wurde der Strafraum, der zuvor ein Halbkreis war, fortan als rechteckige Fläche festgelegt.
Training war zunächst Trumpf, Spiele dagegen wohl eher selten. In den raren Dokumenten aus den Gründerjahren finden sich zunächst nur freundschaftliche Vergleiche mit den ?Rüsselsheimer Athleten?. Dabei dürfte es sich um Leichtathleten der ebenfalls 1906 gegründeten TuS Rüsselsheim gehandelt haben. Die TuS selbst sollte dann 1911 eine eigene Fußballabteilung ins Leben rufen. Diesen ?Testspielen? folgte 1907 das erste offizielle Spiel gegen den ein Jahr vor der Borussia gegründeten FC Germania Gustavsburg.
1909 trat die Borussia dem Süddeutschen Fußballverband ? der Hessische Verband (HFV) wurde erst 1946 gegründet ? bei und spielte unter anderem gegen Teams aus Mainz, Worms, Bürstadt und Arheilgen. Ergebnisse aus dieser fußballerischen Pionierzeit, in der viele Dokumente in der heute kaum noch bekannten Sütterlin-Schrift verfasst wurden, sind nicht überliefert.
Auch die Spielklassenstruktur wechselte häufig, zumal immer mehr Vereine hinzukamen. Von 1910 bis 1914 spielte der SC Borussia 06 in der Bezirksliga C, der damals untersten Klasse des Mittelrheingaus, ehe während des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 der Spielbetrieb völlig zum Erliegen kam.
Beim Wiederbeginn 1918 hatte der Deutsche Fußball Bund (DFB) die Spielklassen neu geordnet. Unter der Kreisliga Rhein-Main gab es die Bezirksklassen A, B und C. Zeitgleich sollte der für die bis dato stets in der untersten Klasse angesiedelte Borussia der Zusammenschluss mit der Turngesellschaft 1885 sportliche Früchte tragen.
Dabei handelte es sich um ?abtrünnige Handballer?, die sich von der TG 1862, dem noch heute größten Rüsselsheimer Sportverein, abgespalten hatten. Somit konnten die Kicker als ?Fußballabteilung SC Borussia 06? in der Turngesellschaft 1885 deren Turn- und Spielplatz an der Haßlocher Straße, wo heute das Planck-Gymnasium steht, mitnutzen.
In der Saison 1919/20, in der der SC bereits drei Teams melden konnte, meisterte die erste Vertretung den Sprung in die Bezirksliga B. Angetrieben vom talentierten Regisseur Heiner Bopp, der fortan mit seinen beiden Brüdern lange Jahre das Gerüst der ersten Mannschaft bildete, gelang den Borussen Anfang der zwanziger Jahre auch der Aufstieg in die Bezirksliga A. Den dabei entscheidenden Triumph in Schwanheim konnten die Borussen zunächst aber nicht gebührend feiern, da die verärgerten Schwanheimer Anhänger nach dem Abpfiff auf die Barrikaden gingen und so die SC-Akteure über die Felder Richtung Kelsterbach flüchten mussten.
Ohnehin ging es in den Spielen, zu denen die Gästeteams meist noch mit dem Rad oder bei größeren Entfernungen mit der Eisenbahn angereist kamen, auf und am Spielfeld hoch her. Da es noch keine Reservespieler gab ? zwei Auswechslungen sind erst seit 1966 und drei seit 1990 erlaubt ? ging es bisweilen auch auf Geheiß der Trainer hart zur Sache, um den Gegner zu schwächen.
Doch auch mancher Anhänger tat sich mit dem Fair-Play-Gedanken schwer: Von Willi Baumann, einem begnadeten TG-Handballer, der später auch sein Fußballtalent entdeckte, ist die Anekdote überliefert, dass er vor einem wichtigen Spiel von Fanatikern der gegnerischen Mannschaft in den Hundezwinger des Vereinsheims ?Zur Rosenhöhe? gesperrt wurde. Das Multi-Talent konnte sich aber selbst befreien und in der zweiten Halbzeit seiner bis dahin dezimierten Mannschaft noch zum Sieg verhelfen.
Vor dieser Episode, die sich Ende der zwanziger Jahre ereignet haben soll, durfte der Sportclub aber noch einen weiteren großen Triumph feiern: Die Borussen, die inzwischen an der Haßlocher Straße ein Grundstück neben dem Gelände der TG 1885 erworben hatten und so fortan über ein zweites Spielfeld verfügten, meisterten dank vieler Zugänge ? vornehmlich neue Opel-Mitarbeiter ? in der Saison 1925/26 den Aufstieg in die Kreisliga Rhein-Main. In seiner neuen Stamm-Spielklasse mischte der SC die nächsten Jahre stets oben mit.
Die Erfolge weckten auch die Aufmerksamkeit des fußballbegeisterten Heinrich von Opel, und erstmals stellte die Firma Opel 1927 auch Fahrzeuge für ein Borussen-Gastspiel in der Musikstadt Trossingen zur Verfügung. Auch die Hoffnung auf finanzielle Unterstützung aus dem Automobilwerk, in dem fast alle Spieler beschäftigt waren, sorgte dafür, dass sich der SC Borussia 06 im April 1928 in Sport-Club Opel 06 Rüsselsheim umbenennen sollte.
Norbert Beck
12.8.2006